Rezension: Dave Eggers – Der Circle

Überwachung aus einem Büro

Das Anliegen ist gewichtig, die Botschaft ehrenwert und doch verspüre ich eine mittelschwere Entnervtheit, als ich die letzte Seite beendet habe. Irgendetwas stimmte nicht, obwohl ich für Dave Eggers‘ Vorhaben, einen aufrüttelnden Roman über das drohende Überwachungszeitalter zu schreiben, so viel sympathie und Vorfreude empfunden hatte. Doch die Idee allein trägt leider nicht das Buch, denn sie ist nicht in den Figuren angekommen. Und die sorgen nunmal für das Leben.

Mae Holland hat ein mehr oder weniger souveränes Psychologiestudium an der Privatuniversität hinter sich gebracht. Ihre Pläne, was mit dem Abschluss anzufangen sei, sind noch nicht weit gediehen, da sitzt sie schon im Großraumbüro der Strom- und Gaswerke ihres verhassten Heimatstädtchens. Sie tut fleißig ihren Dienst, doch die Aufstiegschancen sind minimal. Umso gelegener kommt ihr das Angebot Annies, ihrer Mitbewohnerin aus Studententagen, die ihr die Aufnahme in den „Circle“ verschaffen kann. Die Aussicht, sich in diesem marktbeherrschenden Technologieunternehmen profilieren zu können, erscheint ihr wie eine unverdiente Offenbarung und umso größer ist ihr Ehrgeiz, den Standards gerecht zu werden. Der Circle ist berüchtigter Tummelplatz der cleversten Entwickler und Visionäre dieser Zeit. Wöchentlich werden auf einem paradiesisch ausgestatteten Firmencampus Innovationen geschaffen, die das Potenzial haben, an den Grundfesten der Gesellschaft zu rütteln. Auf einer Welle der kollegialen Herzlichkeit schwebt Mae durch die ersten Wochen. Dankbar und wie unter einer seligen Betäubung folgt sie den Leitsätzen der gigantischen Firma, plappert die „Circle“-Philosophie schon bald im Schlaf mit. Ihr selbstloses, beflissenes Tun rückt sie bereits nach kurzer Zeit aufs Radar der obersten Konzerngurus. Sie sehen in Mae den idealen Prototypen des allzeit überwachten Menschen. Und sie ist bereit, mitzuspielen.

Der Circle ist ein ungeheures Konstrukt. Ein privates Unternehmen, dessen gefräßiger Einfluss auf sämtliche Geschicke des Planeten stetig steigt. In seinem drängenden Wachstumsanspruch liegt das große Versprechen, erst dann anzuhalten, wenn die Vollendung, die Schließung des Kreises, erreicht ist. Eine harmonische, geheimnislose Gemeinschaftlichkeit, in der alles private aufgelöst, alles verborgene grell ausgestrahlt für alle von überall her verfügbar ist. Erschwingliche Kameras lichten jeden bewohnten und unbewohnten Winkel der Erde aus, jedes Kind wird mit Hilfe eines Chips zum gesicherten Gut. Es gibt nichts, das man nicht gern mit anderen teilen würde, es ist sogar unerhört, dies nicht zu tun. Es gibt keinen Raum mehr für den Einzelnen. Das glückliche, aufgeklärte, an allem beteiligte Kollektiv ist die bestimmende Kraft auf dem Globus. Wer allein ist, ist verdächtig.

Die enorme Kraft dieser Vision soll für den Zug in der Handlung sorgen. Sie ist Eggers‘ großes Thema. Wie sie in gefährlicher, anziehender Weise nach und nach Menschenmassen und Lebensbereiche erfasst, ist eine Zeit lang tatsächlich atemberaubend zu lesen, doch irgendwann ab der hundertsten Seite fällt auf, dass sich kaum etwas davon in den handelnden Figuren spiegelt. Es gibt die vielen, die dafür sind, es gibt die wenigen, die dagegen sind, und es gibt ein paar wenige Anflüge von grau. Und alle handeln sie aus inneren Gründen, für deren psychologische Herleitung sich Eggers kaum Zeit genommen hat. Während gigantisch die Ausbreitung des Circlles tobt, bleiben die menschlichen Tragödien merkwürdig schal. Dabei sind sie das grausamste daran. Alle Menschen im Buch sind bloße Schablonen, lebensleere Träger von Weltanschauungen; und Dialoge zwischen ihnen sind Pro- und Contradebatten in pompöser, gestanzter Sprache. Kommt es zu emotionalen Momenten, sind meist nur Kinosprüche zur Hand. So wundert es nicht, dass gerade die epischen Endszenen merkwürdig nachhallfrei verklingen.

Aus der Perspektive eines Lesers betrachtet, der einen Roman mit glaubwürdigen menschlichen Schicksalen erwartet, ist dieses Buch eine Enttäuschung. Und doch muss ich, seitdem ich den Circle gelesen habe, so oft an dieses Buch zurückdenken, wenn ich die Nachrichten lese, dass natürlich etwas dran ist an diesem Roman, etwas sehr Wahres und Wichtiges. Es wäre mir nur lieber gewesen, wenn ich mich auch noch an die Figuren erinnern könnte.

Bildquelle: Big Brother 2009 Italy von _mixer_ (Flickr). Unbearbeitet. Lizensiert unter Creative Commons 2.0 (Attribution-ShareAlike 2.0 Generic)

Rezension: Chad Harbach – Die Kunst des Feldspiels

Drei junge Baseball-Spieler vor einem Sonnenuntergang Mike Schwarz ist keine alltägliche Erscheinung. Er wirkt finster, ernst und scheint in einer ungesunden Weise besessen. Nicht vieles scheint den bärenhaften jungen Mann anzugehen, sein Blick geht starr und fokussiert nach vorn. Schwarz ist Kapitän der Harpooners, des Baseball teams des Westish College in Wisconsin. Er ist bereit, fürs große Ziel jeden Schmerz zu schlucken und er ist im Begriff, einen nie gekannten Erfolgsgeist über die seit Jahrzehnten unbedeutende Universitätsmannschaft zu bringen.

Fixpunkt und Hoffnungsträger der Mannschaft ist Henry Skrimshander, den Schwarz einst als schüchternen Hänfling aus der tiefsten Provinz South Dakotas geholt hat. In Drei Jahren übermenschlichen Privattrainings unter Schwarz ist Henry zum umschwärmten Ausnahmespieler gereift, und sie beide sind zu Freunden geworden, die alle Schlachten gemeinsam schlagen. Doch ein Zwischenfall sorgt über Nacht für eine Blockade in Henrys Spiel. Nichts, das früher selbstverständlich war, gelingt ihm mehr. Seine Schläge sind kraftlos, seine so berüchtigte Anmut und Präzision nur noch schlingernd und staksig, alle Leichtigkeit verloren. Die Harpooners lassen nicht nach, eilen auch ohne ihren Star von Sieg zu Sieg, doch in den Seelen der beiden jungen Männer ist etwas ins Trudeln geraten. Ein leises Verhängnis legt sich über ihre Leben, lässt sie im wichtigsten Moment auseinanderdriften.
Still am Rand des Spielfelds bewegt sich Guert Affenlight, der 60-jährige Direktor des College. Er schwärmt auf rührend fromme Art für Owen, einen der Baseballspieler. Und dann stößt auch noch Pella dazu, seine Tochter, die nach einer verkorksten Beziehung zu einem eisigen Kultursnob Schutz und Aufbruch im Collegeleben sucht und die Verhältnisse noch zusätzlich aufwirbelt.

„Die Kunst des Feldspiels“ ist ein kraftvoller, herzenswarmer Roman. Chad Harbach gehört der viel zu kleinen Riege zeitgenössischer Autoren an, die klug und menschenfreundlich zugleich schreiben. Seine zaudernden Helden sind so behutsam, fast umständlich zärtlich entworfen, dass er sie alle wohl sehr gemocht haben muss. Und so erdrückend ihre Schicksale mitunter sind, so sehr er sie suchen und stolpern lässt, so sicher weiß man, dass sie mit Würde aus der Sache herausfinden werden, dass die Dinge irgendwie doch in Ordnung kommen. Man ist sehr beruhigt, dass sie alle in den Händen gerade dieses Autors sind. Harbach schreibt so respektvoll und unzynisch von scheuer Liebe und psychischer Haltlosigkeit, vom vorsichtigen Suchen in der Jugend und im Alter, dass es ein seltenes Glück ist. Vor der episch rauschenden Kulisse der Siege und Niederlagen einer euphorisierten Sportmannschaft entwickeln die kleinen menschlichen Tragödien eine ganz besondere Zartheit. So steht kerniges Kriegsgehabe ganz lässig neben leisen Innenansichten, verbunden vom Wunsch aller, das richtige zu tun und das Gute zu finden.

„Die Kunst des Feldspiels“ war mein erstes Buch in diesem Jahr und es wird am Ende eines meiner Liebsten gewesen sein. Ich kann es allen ans Herz legen, die im Gemenge der kalten Analytiker, die heute die Lobeshymnen der Kenner auf sich ziehen, einfach einmal wieder einen Autoren mit großem Sinn fürs Menschliche suchen. Es wird euch gut tun.

Bildquelle: Warm ups – Great Bridge High von Jeff Self (Flickr). Unbearbeitet. Lizensiert unter Creative Commons 2.0

Die großen Neun – meine Lieblingsbücher 2014

 

Es ist Zeit für eine Bilanz. Allerorten schauen Leser auf ihre gesammelte Lektüre 2014 zurück, wühlen in den Stapeln, drehen jedes Buch noch einmal um und küren ihre ganz eigenen Glanzlichter. Auch ich möchte dieses Jahr nicht mehr fehlen und eine kleine Aufstellung derjenigen Romane beisteuern, die mir in den zurückliegenden zwölf Monaten besonders gefallen haben. Darunter ist keines, das 2014 erschienen ist, aber ich finde, das macht nichts. Ausführliche Rezensionen zu ihnen gibt es hier leider nicht, denn sie fallen alle in die Zeit, als der Zeilenzeisig noch nicht gegründet war. Ich werde aber jeweils in einszweidrei Sätzen probieren, sie euch schmackhaft zu machen. Sie hätten aber alle viel mehr anerkennende Worte verdient!

Paul Murray – Skippy stirbt
Cover von Paul Murray - Skippy stirbtDieser kraftvolle Roman verfolgt die letzten Monate im Leben des unscheinbaren Daniel, Spitzname Skippy. Sein Tod ist schon im ersten Kapitel besiegelt, das Buch erzählt, wie er zu Grunde ging. Abgründiger Schauplatz seines allmählichen Verfalls ist ein irisches, geistliches jungeninternat, in dem versteckter Missbrauch und Erfolgsdruck beherrschend sind. Der einzige, der das Unheil kommen sieht, ist der Geschichtslehrer Howard, doch sein großer Makel war schon immer der fehlende Mut…

 

„Skippy stirbt“ ist ein sehr menschliches Buch, das in einer großen, gnadenlosen Geste ein ganz kleines, stummes Schicksal bezeugt; und das mit so viel Courage und schmerzvollem Humor, dass man viele Male zusammenzuckt. Murray ist im tragischen wie im komischen Erzählen außergewöhnlich stark. Hier führt er alles meisterlich zusammen.

Verlag: Verlag Antje Kunstmann. Originaltitel: Skippy dies. Übersetzt von Rudolf Hermstein, Martina Tichy. ISBN: 978-3-88897-700-8

Gerbrand Bakker – Der Umweg
Cover von Gerbrand Bakker - Der UmwegPuristisch und leise erzählt der Niederländer die Geschichte einer Amsterdamer Studentin, die sich in die walisische Provinz zurückzieht, um zu Atem zu kommen. In der kargen, ländlichen Stille spürt sie den Rissen in ihrem bisherigen Leben nach und es zeigt sich, dass ihr letzter, tiefster Schmerz noch nicht besiegt ist. Es gibt nicht viele Autoren, die Schwermut und Leichtigkeit so verbinden wie Gerbrand Bakker. Die sparsame, bescheidene Art, mit der er schreibt, ist dicht am Menschen und den einfachen Dingen. Sie steht für etwas, das in der gegenwärtigen Literaturlandschaft allzu selten geworden ist: Wenig Worte machen, denn die richtigen reichen aus. Es gibt ein sehr berührendes und folgerichtiges Ende.

Verlag: Suhrkamp. Originaltitel: De omweg. ISBN: 978-3-518-42288-5

Stephen King – Atlantis
Cover von Stephen King - AtlantisWer immer noch meint, Stephen King sei nur ein Gruselmeister, der sollte sein großartiges Vietnam-Epos „Atlantis“ lesen. In einem großangelegten Panorama von Lebenswegen zeigt King das ganze Ausmaß des hässlichen Kraters, den dieser Krieg in die amerikanische Seele gerissen hat. Dieses Buch ist gewaltig; Es ist voller rauer Menschlichkeit und intelligenter Dramatik und hat mich streckenweise im besten Sinne fertig gemacht.

 

Verlag: Heyne. Originaltitel: Hearts in Atlantis. Aus dem Amerikanischen von Peter Robert. ISBN: 978-3-453-43571-1

Brady Udall – Der einsame Polygamist
Cover von Brady Udall - Der einsame Polygamist
Wieder ein Buch zwischen Tragik und Komik, wie ich sie so gerne mag. Es geht um die vielfältigen Verwicklungen, die eine Mormonenfamilie mit vier Frauen und achtundzwanzig Kindern im Inneren quälen. Im Zentrum steht dabei der gutherzige, aber völlig überforderte Vater und Ehemann namens Golden Richards. Er, der als Fixpunkt und Oberhaupt das wackelige Gebilde zusammenzuhalten hätte, hadert und ringt mit seiner unheilbaren Durchsetzungsschwäche, seiner zögerlichen, nachgiebigen Art, seiner fundamentalen Scheu in allen Lebensdingen. So lässt dieser bemitleidenswerte Tropf, der doch nur auf der Suche nach eigener Sicherheit ist, ungewollt das fatale Auseinanderdriften seiner Familie zu, was viel Unglück bedeutet. Besonders gefällt mir die lebendige, kluge Erzählkraft des Autors, die tiefwurzelndes menschliches elend und allerbesten Slapstick-Humor ganz lässig und natürlich in Einklang bringt.

Verlag: Goldmann. Originaltitel: The Lonely Polygamist. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. ISBN: 978-3-442-46793-8

Kristof Magnusson – Das war ich nicht
Cover von Kristof Magnusson – Das war ich nicht
Kristof Magnusson ist unter den jüngeren deutschen Schriftstellern eine seltene Erscheinung. Seine Bücher sind intelligent und doch so unangestrengt und freundlich im Ton, dass man die meisten seiner hochtrabenden, miesepetrigen Kollegen getrost in die Ecke stellen kann. In „Das war ich nicht“ sind die Schicksale eines altersmüden Schriftstellers, seiner finanziell ruinierten Übersetzerin und eines vorwitzigen Immobilienbankers mit so leichter Hand verwoben, dass das Ergebnis schlaue, herzerfrischende Unterhaltung ist. Das schönste an allem sind die liebenswerten Charaktere, denen man auf einer rasanten Odyssee durchs brodelnde Herz Chicagos gebannt und voller Sympathie folgt.

Verlag: Verlag Antje Kunstmann. ISBN: 978-3-88897-582-0

Aharon Appelfeld – Die Eismine
Cover von Aharon Appelfeld - Die Eismine
Dieses Buch schildert die ungeheuren Entbehrungen jüdischer Gefangener in den polnisch-ukrainischen Arbeitslagern gegen Kriegsende. Der Erzählton ist so gefasst und unbewegt, dass das eigentlich Unsagbare plötzlich sehr, sehr nahe ist. Es ist kein grausam aufwühlendes Buch, wie man sie häufig über den zweiten Weltkrieg findet. Sehr leise dringt zu einem, was dort geschehen ist. Und auf diese Art kommt es bei mir viel tiefer an.

Verlag: Rowohlt Verlag (rororo). ISBN: 978-3-499-24421-6

James Hamilton-Paterson – Kochen mit Fernet-Branca
Cover von James Hamilton-Paterson - Kochen mit Fernet-Branca
Ein völlig absurdes Buch, vollgestopft mit britischem Quatsch jenseits aller Geschmacksgrenzen. Es geht um einen reichlich bescheuerten Nachbarschaftskrieg zwischen zwei schrulligen Künstlerpersönlichkeiten. Auf der einen Seite steht Gerald, ein englischer Schnösel und Kultursnob erster Kajüte, auf der anderen Marta, eine osteuropäische Filmkomponistin mit sentimentaler Heimatverbundenheit. Sie beide wohnen Tür an Tür in der Toscana und sind sich nicht gerade grün. Doch tragen sie, statt die Dinge offen auszusprechen, einen verbissenen, grotesken Kochkampf aus. Jeder der beiden versucht, den anderen mit abnormsten selbstgemachten Speisen zu zerstören und beim Servieren möglichst höflich zu lächeln. Die Dinge spitzen sich zu und zahlreiche Katastrophen ereignen sich. „Kochen mit Fernet-Branca“ ist eines der originellsten und lustigsten Bücher, die ich je gelesen habe. James Hamilton-Paterson ist ein grandioser Humorist mit viel Mut fürs komplett Abwegige. Sehr empfehlenswert!

Verlag: Klett-Cotta Verlag. Originaltitel: Cooking with Fernet-Branca. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. ISBN: 978-3-608-93760-2

Yann Martel – Schiffbruch mit Tiger
Cover von Yann Martel – Schiffbruch mit Tiger
Es gibt nicht viele Bücher, die von allen Seiten gelobt und gepriesen werden und das auch verdient haben. Dieses hier ist so eins. Die Geschichte des indischen Jungen Pi, der viele Wochen lang in einem Rettungsboot über die Wasserwüsten des Pazifiks treibt und dabei nichts als die unbequeme, gestreifte Gesellschaft eines bengalischen Tigers namens Richard Parker hat, hat es zurecht zu großer Beliebtheit gebracht. Dieser Stoff könnte das pure Disney sein, wenn nicht so ein großartiger Schriftsteller am Werk gewesen wäre. Wenn es nur diese packende Abenteuergeschichte wäre, wäre es schon gut genug. Aber es gibt so viel mehr zu erfahren auf dieser turbulenten See-Safari. Über die Weltreligionen, über Erdmännchen, über japanische SchifffahrtsBeamte. Martels Stil ist von schlauem Witz und existenzieller Klugheit gekennzeichnet. Und sein junger Held ist ein selten ausgefuchster Charakterkopf, an den man lange zurückdenkt.

Verlag: S. Fischer. Originaltitel: Life of Pi. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. ISBN: 978-3-596-15665-8

Haruki Murakami – Naokos Lächeln

Cover von Haruki Murakami - Naokos LächelnHaruki Murakami steht als schriftstellerische Größe für sich. Er lässt uns Geisterreiche ahnen, vor denen unsere kleinen Leben nur eine durchscheinende Folie sind. In allen unseren Regungen schimmert auch der kommende Tod auf, das kann er uns zeigen wie sonst niemand. „Naokos Lächeln“ ist ein typischer Murakami. Ein junger, stiller Mann tastet sich haltlos durch sein labyrinthisches Leben, macht scheue Begegnungen, spürt seinen Sehnsüchten nach, sucht Beruhigung. In diesem Buch ist es der junge Toru, dessen leben früh durch den Selbstmord seines besten Freundes überschattet wird. Er gerät in Kontakt mit Naoko, die die Freundin des Verstorbenen war. Sie ist durch den Vorfall seelisch unrettbar zu Schaden gekommen. Seitdem ist sie ein Wesen, das sich aufzulösen scheint, sich weiter und weiter entfernt in Richtung der welt, die nach dem Tod ist. Toru sucht nach der Kraft, sie im Diesseits zu halten,, doch er selbst ist noch auf der Suche. Das klingt versponnener, als es ist. Murakamis Worte sind von großer klarheit. Und über allen Worten liegt ein trauriges Leuchten, wie ich es nur von ihm kenne.

Verlag: btb. Originaltitel: Noruwei no mori. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. ISBN: 978-3-442-74494-7

Auf ein seitenreiches 2015!

Rezension: Hallgrímur Helgason – 101 Reykjavík

Laugavegur, Reykjavík bei Nacht

Irgendwann, vielleicht mit 16, ist Hlynur grundlegend hängen geblieben. Und jetzt, mit 34, kommt er einfach nicht mehr aus der Sache raus. Er ist ein Freak geworden, ein sorgloser, niederträchtiger Flegel und Spinner, verwöhnt und verantwortungsscheu. Für einige Wochen lässt uns der isländische Autor Hallgrímur Helgason in Hlynurs verschrobenem Kopf mitwohnen, mitten zwischen tausend aberwitzigen, abstoßenden Gedanken. Es ist nicht alles so leicht zu ertragen, was dort drinnen so passiert, wirklich nicht. Oft genug und über weite Strecken ist es völlig unausstehlich. Wer aber geduldig dabei bleibt, wird mit einer funkensprühenden und oft schreiend komischen Leseerfahrung belohnt.

Hlynur ist Mitte Dreißig und ohne jede Idee für sein Leben. Die Tage bringt er im Bett zu, dämmernd, masturbierend, das vertraute Knistern des Colaglases neben sich auf dem Nachttisch. Meist schläft er zum Klang von Pornofilmen ein, denn es gibt nichts Beruhigenderes für ihn. Für frisches Bettzeug, neue Unterhosen und warme Mahlzeiten sorgt seine Mutter, bei der Hlynur noch immer wohnt. In den Nächten versackt er in schäbigen Bars, driftet in bunte Drogen-Universen ab und gabelt willige Frauen auf. Sein einziger Antrieb ist die Lusterfüllung bis zur Betäubung. Alles andere betrachtet er bestenfalls mit Gleichgültigkeit, meistens mit offenem Spott und unpassender Witzelei. Auf diese Weise verprellt er Menschen, stiftet Leid und Unglück. Es fehlt ihm der Sinn, dies überhaupt zu bemerken. Vor allem seine Bettabenteuer enden ein uns andere Mal in lästigen, ungewollten Schwangerschaften. Sich dieser Bedrohung zu entziehen, ist eine von Hlynurs größten Herausforderungen. Auch von seiner Familie sieht er sich eingekreist. Seine Mutter, die ihn geduldig bewirtet und seine Lebensweise mit humorvoller Gelassenheit toleriert, krempelt ihr eigenes Leben mit Mitte Fünfzig noch einmal um und startet eine lesbische Beziehung. Seine Schwester Elsa ist angesehene Krankenschwester und lebt mit Mann und Kind in ruhiger Vorstadtlage. Auch sie rückt ihrem Bruder nicht zu Leibe. Schwer für Hlynur, mit all dem umzugehen.. Lauter Menschen, die ihn mögen, lauter Menschen, die alles richtig machen und so verdammt entschlossen dabei sind. Er setzt alles daran, diese beklemmenden Tatsachen zu meiden. So lässt er sich durchs Leben treiben.

Und genauso treibt der Leser auch durchs Buch. Kein souveräner Erzähler nimmt einen hier an die Hand, wir werden ohne Erklärung in die verqueren Innenwelten dieses schiefgeratenen Sonderlings geschleudert. Vulgäre Gedankenspiele, abwegige Assoziationsketten, Versagensängste, Größenwahn, frauenfeindliche Gehässigkeiten, ausufernde Wortjonglage, das alles flutet ungefiltert auf den Leser ein. Oft hat man über Seiten hinweg große Mühen damit, den gedanklichen Eskapaden zu folgen, manchmal lässt man es lieber gleich bleiben, weil sie so seltsam und widerlich sind. Man sitzt mitten im Hirn eines Degenerierten, was nicht schön ist, aber faszinierend. Denn so verworfen und egomanisch Hlynurs Ansichten auch sind, so geistreich und lustig sind sie aufgeschrieben. Helgason nutzt die Freiheit einer halbverrückten Figur, um Feuerwerke des Scharfsinns abzubrennen. Schlag auf Schlag rollen die bösartigen und verdrehten Einfälle auf uns zu und immer wieder aufs Neue treffen sie doch irgendwie gnadenlos ins Schwarze. Der Autor besitzt einen phantastischen Sinn für frontalen Alltagshumor. Nichts ist hintersinnig oder ironisch verklärt, die Pointen sausen nieder wie die Fallbeile und es macht oft wirklich großen Spaß. So hat selbst eine so zynische Geschichte einen erfrischenden Grundton, was eine Seltenheit ist.

Hlynur ist unbelehrbar. Er ist in einem Stadium zwischen Spätkindlichkeit und Verbitterung erstarrt. Und doch gibt es die Momente, in denen ihm bewusst wird, dass er viele Kämpfe zu verlieren droht. Den Kampf um Selbstachtung, um Frieden mit seiner Familie und um die eigene Zufriedenheit im Leben. „Ich bin nicht das, was ich bin. Ich bin das, was ich geworden bin“, entschuldigt er sich an einer Stelle. Man muss bis zur letzten Seite darum zittern, ob ihm die Wende gelingen wird.

„Reykjavik 101“ ist ein herrlich anstrengender Roman mit einem unrettbaren Helden. Ein großer, verquerer Spaß und ein glänzender Einblick ins Denken eines Mannes, der kurz davor ist, die letzte Ausfahrt zu verpassen.

Bildquelle: Laugavegur by Night von Jason R. Berg (Flickr). Unbearbeitet. Lizensiert unter Creative Commons 2.0

Rezension: Lars Saabye Christensen – Der Alleinunterhalter

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Der Schlaf kann eine Gnade sein, doch am langen Polartag finden ihn nur die Wenigsten wirklich. Lars Christensens Roman „Der Alleinunterhalter“ beobachtet einen Sommer lang ein abgeschiedenes Lofotendorf, wie es nördlicher nicht liegen könnte. Und unter dem merkwürdig narkotischen Einfluss der Mitternachtssonne, die für lange Zeit nicht untergehen wird, kommen die Figuren, jede auf ihre Art, einfach nicht zur Ruhe. Jonathan Griff, einst klassisch am Klavier ausgebildet, tritt im hohen Norden Norwegens einen Sommerjob als Stimmungsmusiker an. Weit jenseits des Polarkreises hat ihn ein denkbar entlegenes Inselhotel zur abendlichen Tanzunterhaltung verpflichtet. Ein Höhenflug durch die Konzertsäle der Welt ist trotz großer Hoffnungen seines Umfelds ausgeblieben. Die Last der elterlichen Erwartung und der zermürbende Konkurrenzdruck haben Jonathan ratlos und allzu devot gemacht. So nimmt er bis auf Weiteres auch Aufträge aus der Provinz an, und das mit großer Hingabe und Gutmütigkeit. Vom ersten Tag an erfasst ihn das morbide, mythische Wesen des kleinen Fischerorts. Es ist Mittsommer, die Zeit des anhaltenden tageslichts. Selbst die Ältesten im Dorf sind in diesen Wochen seltsam ruhelos. Das allgemeine Interesse an täglichen Tanzfesten ist allerdings gering, das geht Jonathan schnell auf. Im tapferen Kampf, seine Würde zu wahren, bespaßt er allabendlich den kläglich verwaisten Vergnügungssaal des Hotels und erntet nichts als Stille. In den Nächten wandelt er durch die helle Siedlung und die Gespenster seiner Jugendtage sind ihm summend auf den Fersen. Die psychischen Züchtigungen seiner Mutter, die totale Missachtung durch seinen Vater, die erniedrigenden Lehrjahre an der Klavierakademie in Oslo; All das ersteht im schalen Dauerschein der Mitternachtssonne zu neuem Leben und pocht endlich auf seine Auflösung. Doch Jonathan ist nicht der einzige Versehrte. Auch um ihn her taumeln die Menschen überspannt und vergangenheitstrunken durch den Sommer. Da sind Solveig und Sarah, die geisterhaften Empfangsmädchen des Hotels, die gemeinsam nach dem totgeborenen Säugling ihres ehemaligen Kindermädchens suchen; Da ist der Dorfpfarrer, der seit Jahren eine glorreiche Predigt für das Königspaar bereithält, das nie den Ort besucht. Da ist der jähzornige Hotelbesitzer, der im Eifer, seine menschenleeren Anlagen durch Luxusgolfplätze aufzuwerten, die Trauer um seine verstorbene Frau betäubt. Es vergehen nur wenige Tage, bis Jonathan es mit seiner unbescholtenen, milden Art bis in ihre Mitte geschafft hat. Bald schon sind es nicht nur seine eigenen Wunden, die ihn schmerzen. Viele angeschlagene Seelen scheinen um seine Gunst zu ringen. Und je mehr vom Leid der Anderen er zu lindern sucht, desto näher scheint er seinem eigenen Frieden zu kommen, einem brüchigen Frieden, der am Ende des Sommers einer letzten großen Probe standhalten muss. „Der Alleinunterhalter“ ist ein abgründiger Roman voller schwarzer Geschichten, Ein Buch mit mehr Verlust und innerer Qual als überhaupt nur jemand ertragen kann; und umso erstaunlicher ist der Ton, in dem Christensen seinen müden Helden Jonathan erzählen lässt. Mit einer sanften, unaufdringlichen Klugheit, herzenswarm hingepinselt in einer Art schelmischer Melancholie. Die Haltlosigkeit Jonathans und anderer Figuren ist so taumelnd schön in Szene gesetzt, dass der Schmerz fast etwas Wonniges an sich hat. Zeitweise scheint sich alles in einer wabernden, übermüdeten Schwebestimmung Aufzulösen. Alles Düstere hat hier sein verhaltenes Leuchten. Christensen durchbricht diese Grundstimmung kunstvoll mit krachend absurden und albernen Schilderungen, haufenweise brachialen Unwahrscheinlichkeiten, die immer wieder wohltuend in den Dämmerschlaf des übrigen Erzähltons fahren. Zügelloser Quatsch steht gleichrangig neben seelischer Zerstörung, das tut auch dem Leser wirklich gut. So wie Lars Christensen kriegen das nur wenige hin. Es ist immer besonders, wenn ein Autor das Leben so abzubilden versteht, wie es aller Erfahrung nach nunmal ist, nämlich alles auf einmal: Grausam, fabelhaft, lächerlich und selten schön. Lars Saabye Christensens „Der Alleinunterhalter“ ist im deutschen Taschenbuchverlag erschienen.

Bildquelle: Lofoten, von Jon Olav Eikenes. Unbearbeitet. Lizensiert unter Creative Commons 2.0