Der Schlaf kann eine Gnade sein, doch am langen Polartag finden ihn nur die Wenigsten wirklich. Lars Christensens Roman „Der Alleinunterhalter“ beobachtet einen Sommer lang ein abgeschiedenes Lofotendorf, wie es nördlicher nicht liegen könnte. Und unter dem merkwürdig narkotischen Einfluss der Mitternachtssonne, die für lange Zeit nicht untergehen wird, kommen die Figuren, jede auf ihre Art, einfach nicht zur Ruhe. Jonathan Griff, einst klassisch am Klavier ausgebildet, tritt im hohen Norden Norwegens einen Sommerjob als Stimmungsmusiker an. Weit jenseits des Polarkreises hat ihn ein denkbar entlegenes Inselhotel zur abendlichen Tanzunterhaltung verpflichtet. Ein Höhenflug durch die Konzertsäle der Welt ist trotz großer Hoffnungen seines Umfelds ausgeblieben. Die Last der elterlichen Erwartung und der zermürbende Konkurrenzdruck haben Jonathan ratlos und allzu devot gemacht. So nimmt er bis auf Weiteres auch Aufträge aus der Provinz an, und das mit großer Hingabe und Gutmütigkeit. Vom ersten Tag an erfasst ihn das morbide, mythische Wesen des kleinen Fischerorts. Es ist Mittsommer, die Zeit des anhaltenden tageslichts. Selbst die Ältesten im Dorf sind in diesen Wochen seltsam ruhelos. Das allgemeine Interesse an täglichen Tanzfesten ist allerdings gering, das geht Jonathan schnell auf. Im tapferen Kampf, seine Würde zu wahren, bespaßt er allabendlich den kläglich verwaisten Vergnügungssaal des Hotels und erntet nichts als Stille. In den Nächten wandelt er durch die helle Siedlung und die Gespenster seiner Jugendtage sind ihm summend auf den Fersen. Die psychischen Züchtigungen seiner Mutter, die totale Missachtung durch seinen Vater, die erniedrigenden Lehrjahre an der Klavierakademie in Oslo; All das ersteht im schalen Dauerschein der Mitternachtssonne zu neuem Leben und pocht endlich auf seine Auflösung. Doch Jonathan ist nicht der einzige Versehrte. Auch um ihn her taumeln die Menschen überspannt und vergangenheitstrunken durch den Sommer. Da sind Solveig und Sarah, die geisterhaften Empfangsmädchen des Hotels, die gemeinsam nach dem totgeborenen Säugling ihres ehemaligen Kindermädchens suchen; Da ist der Dorfpfarrer, der seit Jahren eine glorreiche Predigt für das Königspaar bereithält, das nie den Ort besucht. Da ist der jähzornige Hotelbesitzer, der im Eifer, seine menschenleeren Anlagen durch Luxusgolfplätze aufzuwerten, die Trauer um seine verstorbene Frau betäubt. Es vergehen nur wenige Tage, bis Jonathan es mit seiner unbescholtenen, milden Art bis in ihre Mitte geschafft hat. Bald schon sind es nicht nur seine eigenen Wunden, die ihn schmerzen. Viele angeschlagene Seelen scheinen um seine Gunst zu ringen. Und je mehr vom Leid der Anderen er zu lindern sucht, desto näher scheint er seinem eigenen Frieden zu kommen, einem brüchigen Frieden, der am Ende des Sommers einer letzten großen Probe standhalten muss. „Der Alleinunterhalter“ ist ein abgründiger Roman voller schwarzer Geschichten, Ein Buch mit mehr Verlust und innerer Qual als überhaupt nur jemand ertragen kann; und umso erstaunlicher ist der Ton, in dem Christensen seinen müden Helden Jonathan erzählen lässt. Mit einer sanften, unaufdringlichen Klugheit, herzenswarm hingepinselt in einer Art schelmischer Melancholie. Die Haltlosigkeit Jonathans und anderer Figuren ist so taumelnd schön in Szene gesetzt, dass der Schmerz fast etwas Wonniges an sich hat. Zeitweise scheint sich alles in einer wabernden, übermüdeten Schwebestimmung Aufzulösen. Alles Düstere hat hier sein verhaltenes Leuchten. Christensen durchbricht diese Grundstimmung kunstvoll mit krachend absurden und albernen Schilderungen, haufenweise brachialen Unwahrscheinlichkeiten, die immer wieder wohltuend in den Dämmerschlaf des übrigen Erzähltons fahren. Zügelloser Quatsch steht gleichrangig neben seelischer Zerstörung, das tut auch dem Leser wirklich gut. So wie Lars Christensen kriegen das nur wenige hin. Es ist immer besonders, wenn ein Autor das Leben so abzubilden versteht, wie es aller Erfahrung nach nunmal ist, nämlich alles auf einmal: Grausam, fabelhaft, lächerlich und selten schön. Lars Saabye Christensens „Der Alleinunterhalter“ ist im deutschen Taschenbuchverlag erschienen.
Bildquelle: Lofoten, von Jon Olav Eikenes. Unbearbeitet. Lizensiert unter Creative Commons 2.0