Es ist Zeit für eine Bilanz. Allerorten schauen Leser auf ihre gesammelte Lektüre 2014 zurück, wühlen in den Stapeln, drehen jedes Buch noch einmal um und küren ihre ganz eigenen Glanzlichter. Auch ich möchte dieses Jahr nicht mehr fehlen und eine kleine Aufstellung derjenigen Romane beisteuern, die mir in den zurückliegenden zwölf Monaten besonders gefallen haben. Darunter ist keines, das 2014 erschienen ist, aber ich finde, das macht nichts. Ausführliche Rezensionen zu ihnen gibt es hier leider nicht, denn sie fallen alle in die Zeit, als der Zeilenzeisig noch nicht gegründet war. Ich werde aber jeweils in einszweidrei Sätzen probieren, sie euch schmackhaft zu machen. Sie hätten aber alle viel mehr anerkennende Worte verdient!
Paul Murray – Skippy stirbt
Dieser kraftvolle Roman verfolgt die letzten Monate im Leben des unscheinbaren Daniel, Spitzname Skippy. Sein Tod ist schon im ersten Kapitel besiegelt, das Buch erzählt, wie er zu Grunde ging. Abgründiger Schauplatz seines allmählichen Verfalls ist ein irisches, geistliches jungeninternat, in dem versteckter Missbrauch und Erfolgsdruck beherrschend sind. Der einzige, der das Unheil kommen sieht, ist der Geschichtslehrer Howard, doch sein großer Makel war schon immer der fehlende Mut…
„Skippy stirbt“ ist ein sehr menschliches Buch, das in einer großen, gnadenlosen Geste ein ganz kleines, stummes Schicksal bezeugt; und das mit so viel Courage und schmerzvollem Humor, dass man viele Male zusammenzuckt. Murray ist im tragischen wie im komischen Erzählen außergewöhnlich stark. Hier führt er alles meisterlich zusammen.
Verlag: Verlag Antje Kunstmann. Originaltitel: Skippy dies. Übersetzt von Rudolf Hermstein, Martina Tichy. ISBN: 978-3-88897-700-8
Gerbrand Bakker – Der Umweg
Puristisch und leise erzählt der Niederländer die Geschichte einer Amsterdamer Studentin, die sich in die walisische Provinz zurückzieht, um zu Atem zu kommen. In der kargen, ländlichen Stille spürt sie den Rissen in ihrem bisherigen Leben nach und es zeigt sich, dass ihr letzter, tiefster Schmerz noch nicht besiegt ist. Es gibt nicht viele Autoren, die Schwermut und Leichtigkeit so verbinden wie Gerbrand Bakker. Die sparsame, bescheidene Art, mit der er schreibt, ist dicht am Menschen und den einfachen Dingen. Sie steht für etwas, das in der gegenwärtigen Literaturlandschaft allzu selten geworden ist: Wenig Worte machen, denn die richtigen reichen aus. Es gibt ein sehr berührendes und folgerichtiges Ende.
Verlag: Suhrkamp. Originaltitel: De omweg. ISBN: 978-3-518-42288-5
Stephen King – Atlantis
Wer immer noch meint, Stephen King sei nur ein Gruselmeister, der sollte sein großartiges Vietnam-Epos „Atlantis“ lesen. In einem großangelegten Panorama von Lebenswegen zeigt King das ganze Ausmaß des hässlichen Kraters, den dieser Krieg in die amerikanische Seele gerissen hat. Dieses Buch ist gewaltig; Es ist voller rauer Menschlichkeit und intelligenter Dramatik und hat mich streckenweise im besten Sinne fertig gemacht.
Verlag: Heyne. Originaltitel: Hearts in Atlantis. Aus dem Amerikanischen von Peter Robert. ISBN: 978-3-453-43571-1
Brady Udall – Der einsame Polygamist
Wieder ein Buch zwischen Tragik und Komik, wie ich sie so gerne mag. Es geht um die vielfältigen Verwicklungen, die eine Mormonenfamilie mit vier Frauen und achtundzwanzig Kindern im Inneren quälen. Im Zentrum steht dabei der gutherzige, aber völlig überforderte Vater und Ehemann namens Golden Richards. Er, der als Fixpunkt und Oberhaupt das wackelige Gebilde zusammenzuhalten hätte, hadert und ringt mit seiner unheilbaren Durchsetzungsschwäche, seiner zögerlichen, nachgiebigen Art, seiner fundamentalen Scheu in allen Lebensdingen. So lässt dieser bemitleidenswerte Tropf, der doch nur auf der Suche nach eigener Sicherheit ist, ungewollt das fatale Auseinanderdriften seiner Familie zu, was viel Unglück bedeutet. Besonders gefällt mir die lebendige, kluge Erzählkraft des Autors, die tiefwurzelndes menschliches elend und allerbesten Slapstick-Humor ganz lässig und natürlich in Einklang bringt.
Verlag: Goldmann. Originaltitel: The Lonely Polygamist. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. ISBN: 978-3-442-46793-8
Kristof Magnusson – Das war ich nicht
Kristof Magnusson ist unter den jüngeren deutschen Schriftstellern eine seltene Erscheinung. Seine Bücher sind intelligent und doch so unangestrengt und freundlich im Ton, dass man die meisten seiner hochtrabenden, miesepetrigen Kollegen getrost in die Ecke stellen kann. In „Das war ich nicht“ sind die Schicksale eines altersmüden Schriftstellers, seiner finanziell ruinierten Übersetzerin und eines vorwitzigen Immobilienbankers mit so leichter Hand verwoben, dass das Ergebnis schlaue, herzerfrischende Unterhaltung ist. Das schönste an allem sind die liebenswerten Charaktere, denen man auf einer rasanten Odyssee durchs brodelnde Herz Chicagos gebannt und voller Sympathie folgt.
Verlag: Verlag Antje Kunstmann. ISBN: 978-3-88897-582-0
Aharon Appelfeld – Die Eismine
Dieses Buch schildert die ungeheuren Entbehrungen jüdischer Gefangener in den polnisch-ukrainischen Arbeitslagern gegen Kriegsende. Der Erzählton ist so gefasst und unbewegt, dass das eigentlich Unsagbare plötzlich sehr, sehr nahe ist. Es ist kein grausam aufwühlendes Buch, wie man sie häufig über den zweiten Weltkrieg findet. Sehr leise dringt zu einem, was dort geschehen ist. Und auf diese Art kommt es bei mir viel tiefer an.
Verlag: Rowohlt Verlag (rororo). ISBN: 978-3-499-24421-6
James Hamilton-Paterson – Kochen mit Fernet-Branca
Ein völlig absurdes Buch, vollgestopft mit britischem Quatsch jenseits aller Geschmacksgrenzen. Es geht um einen reichlich bescheuerten Nachbarschaftskrieg zwischen zwei schrulligen Künstlerpersönlichkeiten. Auf der einen Seite steht Gerald, ein englischer Schnösel und Kultursnob erster Kajüte, auf der anderen Marta, eine osteuropäische Filmkomponistin mit sentimentaler Heimatverbundenheit. Sie beide wohnen Tür an Tür in der Toscana und sind sich nicht gerade grün. Doch tragen sie, statt die Dinge offen auszusprechen, einen verbissenen, grotesken Kochkampf aus. Jeder der beiden versucht, den anderen mit abnormsten selbstgemachten Speisen zu zerstören und beim Servieren möglichst höflich zu lächeln. Die Dinge spitzen sich zu und zahlreiche Katastrophen ereignen sich. „Kochen mit Fernet-Branca“ ist eines der originellsten und lustigsten Bücher, die ich je gelesen habe. James Hamilton-Paterson ist ein grandioser Humorist mit viel Mut fürs komplett Abwegige. Sehr empfehlenswert!
Verlag: Klett-Cotta Verlag. Originaltitel: Cooking with Fernet-Branca. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. ISBN: 978-3-608-93760-2
Yann Martel – Schiffbruch mit Tiger
Es gibt nicht viele Bücher, die von allen Seiten gelobt und gepriesen werden und das auch verdient haben. Dieses hier ist so eins. Die Geschichte des indischen Jungen Pi, der viele Wochen lang in einem Rettungsboot über die Wasserwüsten des Pazifiks treibt und dabei nichts als die unbequeme, gestreifte Gesellschaft eines bengalischen Tigers namens Richard Parker hat, hat es zurecht zu großer Beliebtheit gebracht. Dieser Stoff könnte das pure Disney sein, wenn nicht so ein großartiger Schriftsteller am Werk gewesen wäre. Wenn es nur diese packende Abenteuergeschichte wäre, wäre es schon gut genug. Aber es gibt so viel mehr zu erfahren auf dieser turbulenten See-Safari. Über die Weltreligionen, über Erdmännchen, über japanische SchifffahrtsBeamte. Martels Stil ist von schlauem Witz und existenzieller Klugheit gekennzeichnet. Und sein junger Held ist ein selten ausgefuchster Charakterkopf, an den man lange zurückdenkt.
Verlag: S. Fischer. Originaltitel: Life of Pi. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. ISBN: 978-3-596-15665-8
Haruki Murakami – Naokos Lächeln
Haruki Murakami steht als schriftstellerische Größe für sich. Er lässt uns Geisterreiche ahnen, vor denen unsere kleinen Leben nur eine durchscheinende Folie sind. In allen unseren Regungen schimmert auch der kommende Tod auf, das kann er uns zeigen wie sonst niemand. „Naokos Lächeln“ ist ein typischer Murakami. Ein junger, stiller Mann tastet sich haltlos durch sein labyrinthisches Leben, macht scheue Begegnungen, spürt seinen Sehnsüchten nach, sucht Beruhigung. In diesem Buch ist es der junge Toru, dessen leben früh durch den Selbstmord seines besten Freundes überschattet wird. Er gerät in Kontakt mit Naoko, die die Freundin des Verstorbenen war. Sie ist durch den Vorfall seelisch unrettbar zu Schaden gekommen. Seitdem ist sie ein Wesen, das sich aufzulösen scheint, sich weiter und weiter entfernt in Richtung der welt, die nach dem Tod ist. Toru sucht nach der Kraft, sie im Diesseits zu halten,, doch er selbst ist noch auf der Suche. Das klingt versponnener, als es ist. Murakamis Worte sind von großer klarheit. Und über allen Worten liegt ein trauriges Leuchten, wie ich es nur von ihm kenne.
Verlag: btb. Originaltitel: Noruwei no mori. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. ISBN: 978-3-442-74494-7
Auf ein seitenreiches 2015!